Chan/Zen & der Bonsai Weg

Der Zen-Weg
Bonsai ist vor etwa 800 Jahren von wandernden buddhistischen Zen-Mönchen aus China nach Japan gebracht worden. Der Buddhismus ist vom westlichen Standpunkt aus betrachtet nur bedingt eine Religion. Buddhismus ist keine Glaubensrichtung, in der einem etwas beigebracht wird. Entsprechend sind auch die Übungen des Zen sicherlich keine religiösen Handlungen. Buddhismus und damit auch Zen können vielmehr als Wege auf der Suche nach der Selbsterkenntnis bezeichnet werden. Ziel der Selbsterkenntnis ist die Befreiung des Geistes von allen emotionalen und intellektuellen Schranken.
Um das zu erreichen gibt es zwei Möglichkeiten. Zum einen durch Meditation und zum anderen durch sich in das Gegenüber versetzen. Der Zen-Meister Shigetsu Sasaki Sokei-an sagt: „Um als menschliches Wesen zu leben, müssen wir uns in all das hinein stellen, was uns umgibt. Wenn wir eine Tulpe in einem Topf haben, geben wir ihr Wasser stellen sie an die Sonne und schützen sie vor dem kühlen Wind und Frost. An einem schönen Frühlingstag, in den blauen Himmel schauend, verbinden wir uns mit dem Himmel und lassen unsere Sorgen fallen – wir verkörpern uns in dem Objekt, mit welchem wir Kontakt herstellen.“
Der Buddhismus entwickelte unter anderem die Lehre von der physischen beziehungsweise materiellen Verwandlung des Körpers. Wenn wir beispielsweise Wasser trinken, wird das Wasser ein Teil von uns selbst. Ebenso wird die Nahrung, die wir zu uns nehmen, ein Teil von uns selbst. Ähnliches gilt, wenn wir jemanden oder etwas um uns herum verändern wollen; wir müssen uns in das Gegenüber verwandeln. Nur so können wir das wahre Wesen des Gegenübers wirklich verstehen und erkennen, wie es geändert werden will. Dieses Prinzip nennen die Buddhisten „Nirmanakaya“ und wird durch die Buddha-Verkörperung mit den tausend Augen und Armen symbolisiert. Sie bedeutet die tägliche Verwandlung auf unzählige Arten und Weisen. Auf Bonsai als Zen-Weg übertragen, bedeutet das, wir müssen mit dem Baum eins werden, um seinen Wunsch nach Verwandlung wirklich erfassen und realisieren zu können.

Bonsai – ein Zen-Kunstwerk
Kaum ein Betrachter kann sich der suggestiven Kraft entziehen, die von einem grossen Bonsai-Meisterwerk ausgeht. Lässt man sich auf das Kunstwerk Bonsai ein spürt man ganz unmittelbar wie uns der Künstler an der Schöpfung des Kunstwerkes teilhaben lässt.
Woher kommt nun diese ungeheure Anziehungskraft, die von einem wirklich guten Bonsai ausgeht? Sicher nicht, weil uns der Bonsai zu einer Analyse seiner selbst einlädt. lm Gegenteil, ein Bonsai spricht unsere intuitive Seite an und wird damit zu einer reinen Ausdrucksform des Zen. Um sich die Philosophie des Zen zu erschliessen, muss man zunächst begreifen, dass unser Geist aus zwei gegensätzlichen Polen besteht, die auf den beiden Gehirnhälften festgelegt sind. So dient unsere linke Gehirnhälfte mehr dem rationalen, analysierenden Denken, während die rechte Gehirnhälfte mehr dem instinktiven, intuitiven Erleben entspricht. Beide Bereiche finden sich in den verschiedenen Ausdrucksformen der Kunst wieder. So führt uns das Betrachten westlicher Kunstwerke immer zu der Frage: „Was will uns der Künstler damit sagen?”
Bei der Betrachtung eines Zen-Kunstwerkes wäre diese Frage bei der Erfassung des Kunstwerkes hinderlich. Sobald sich bei der Betrachtung eines Zen-Kunstwerkes der analysierende Geist in den Vordergrund drängt, ist eine Durchdringung des Kunstwerkes unmöglich. Das auffälligste Merkmal der Zen-Kunst ist wohl die Asymmetrie, wodurch der Betrachter häufig den Impuls verspürt, In das Kunstwerk einzutreten und es „zurechtzurücken’”. Während die symmetrische Kunst eine geschlossene zurückweisende Form hat, die in selbstgenügsamer Vollkommenheit erstarrt, lädt die asymmetrische Kunst den Betrachter ein, aktiv zu werden. Der Betrachter wird geradezu gezwungen, unter die Oberfläche zu dringen, um die Individualität des Kunstwerkes zu erleben. Ein Zen-Kunstwerk ist gleichsam in einem ständigen Schaffensprozess, und sei es nur im Kopf des Betrachters. Bei näherer Betrachtung hat die Zen-Kultur drei aufeinander bezogene Aspekte.
In der Kunst finden wir zunächst die Schöpfung von Schönheit, die uns als Medium dient, Erkenntnisse zu gewinnen, die wir auf andere Weise nicht erfahren können. So ist die Zen-Keramik eine Mischung aus tradierten, jahrhundertealten Techniken des Töpferhandwerks und formvollendeter Kunstfertigkeit. lm Ikebana finden wir die Liebe zur Natur in all ihrer Schönheit mit der Erhabenheit der Vergänglichkeit verwoben. Bei Bonsai wiederum zeigt sich die Naturverbundenheit mit der Würde des Alters kombiniert.
Der zweite Aspekt der Zen-Kultur zeigt sich ganz deutlich in der Fähigkeit der Japaner in einem überfüllten U-Bahnwagen heitere Gelassenheit zu bewahren und Ruhe in sich selbst zu finden. Somit dienen die verschiedenen Kunstformen im Zen ganz bewusst dazu, dem Stress des modernen Lebens entgegenzuwirken. So kann man sich selbst in der überfüllten U-Bahn meditativ unter seine Bonsai auf der heimatlichen Terrasse begeben und Ruhe finden. Die stille Meditation ist der traditionelle Grundzug aller östlichen Philosophen oder Religionen. Hier findet man den Gleichmut, der durch spirituelle Übungen erschlossen werden kann. Eine der spirituellen Übungen kann dabei die Gestaltung eines Bonsai sein. Hierbei wird nicht mehr zwischen der religiösen – der Meditation – und der profanen – der Gestaltung eines Bonsai – Handlung getrennt. Man spinnt sich gleichsam in einen Kokon der Stille ein und ist damit geistig aus den Alltagsdingen herausgehoben.
Der dritte Aspekt des Zen ist der tiefe Sinn für die Schönheit und ihre Gesetzmässigkeiten. Doch während die westliche Kunst danach strebt, die Form zu vollenden, vermeidet der Zen-Künstler sorgsam die Perfektion. Der Zen-Künstler idealisiert nicht eine Welt, deren Existenz ihm fragwürdig erscheint. Ein Zen-Kunstwerk ist niemals überladen und bis ins letzte ausgefeilt, kurz gesagt wird jede Übertreibung vermieden. Besonders deutlich zeigt sich diese Haltung in einem japanischen Garten. Der Garten ist immer so angelegt, dass er dem Betrachter immer wieder neue Aspekte seiner Schönheit eröffnet, so oft er ihn auch anschaut. Selbst in der Leere eines Steingartens zeigt sich bald eine verborgene Fülle. Die architektonischen europäischen Gärten hingegen bieten ihre ganze Pracht und Schönheit gleich offen dar, schnell lässt sich nichts Unverhofftes mehr entdecken. Um die ideale Wirkung eines Zen-Kunstwerkes zu entwickeln, muss der Zen- Künstler seine Techniken so vollkommen beherrschen, dass sie intuitiv angewendet werden können und dabei der Realisierung der Gestaltung nicht im Wege stehen. Für Bonsai bedeutet das, dass man beispielsweise die Techniken des Schneidens und des Drahtens der Triebe so perfekt beherrschen lernen muss, dass man über das richtige Schneiden der Triebe oder Anlegen des Drahtes nicht mehr nachdenken muss. Das zukünftige Bild des Bonsai muss vor Beginn der Gestaltung in fast allen Einzelheiten vor dem geistigen Auge erscheinen, der Gestaltungsvorgang wird damit nur zur dinglichen Realisation des Kunstwerkes.

Ein Auszug aus:
Horst Stahl, Bonsai – Vom Grundkurs zum Meister
(c) 2010 Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Das Buch gilt in der Bonsai Szene als perfekte Einsteigerlektüre, gleichzeitig hat es jeder fortgeschrittene Bonsai Liebhaber in seinem Regal stehen. Ein Buch für alle, die ihr Herz an die Bonsai Bäume verloren haben.
Wir danken für die Genehmigung von diesem wunderbaren Text, der die Bonsai Kunst als wunderbaren Chan/Zen Weg aufzeigt.
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Bilder:
Shaolin Chan Tempel (Shi Xing Long)