Jiao Lian Karel in China: ein Reisebericht
Highlight Anreise
Am 03.05.2024 war es soweit – ein langersehnter Wunsch wurde in die Tat umgesetzt: Ich sass im Flieger von Zürich über Hong Kong nach Zengzhou, wo mich Shyie und Shifu am Flughafen in Empfang nahmen. Nach einer gefühlt sehr kurzen Autofahrt erreichten wir Shiye’s Zuhause in Dengfeng. Die Unsicherheiten und Fragen betreffend des Umgangs mit Shiye lösten sich schnell in Luft auf – Freundlichkeit, gar Herzlichkeit, gepaart mit einem guten Sinn für Humor prägen sein Wesen, weshalb ich mich sich sehr schnell willkommen und wohl in seiner Gegenwart fühlte. Ein kurzer Schwatz mit Shifu bei einem Tee, und schon war es Zeit zu Bett zu gehen. Ein sehr langer und anstrengender Reisetag ging zu Ende.
Highlight Ausflüge
Die beiden ersten Tage waren reserviert für Ausflüge mit Shiye und Shifu. Am Sonntag fuhren wir einige Kilometer durch Zentralchina zum Fo Quan Tempel, welcher von einer 108 m grossen Buddha-Statue überragt wird. Leider war das Museum in Renovation, sodass wir nicht bis zur Statue hoch gehen konnten. Nichtsdestotrotz war es ein super schöner Ausflug, bei welchem ich auch ein erstes Mal mit der chinesischen Landbevölkerung in Kontakt kam. Dies alleine ist schon sehr spannend und vorallem laut.
Am Montag stand der Besuch des Shaolin Tempels, der Damo Höhle und der Damo Statue auf dem Programm. Es war ein von mir geäusserter Wunsch an Shifu, den Shaolin Tempel einmal zusammen mit ihm zu besuchen, weshalb wir einen sich kurz überschneidenden Aufenthalt in China planten. Am Abend vor dem Tempelbesuch, wurde mir mitgeteilt, dass Shiye und Shifu kurzfristig den gerade aus Japan zurückgekehrten Abt des Shaolin Tempels Shi Yong Xin für eine Besprechung treffen, und ich dieser Audienz beiwohnen darf. Meinen Fluchtreflex hinsichtlich formaler Treffen unterdrückend, schaute ich diesem Ereignis mit grossem Interesse entgegen. Das Treffen selbst war kurz und bündig. Für einen Ausstehenden wie mich hörte sich sowieso alles chinesisch an, aber hinsichtlich Protokoll, Stimmung und Athmosphäre war es höchst interessant – insgesamt ein sehr spannendes und unerwartetes Erlebnis mit Abschlussfoto.
Anschliessend konnte ich mit Shiye und Shifu den Shaolin Tempel besichtigen. Wiederum war es sehr spannend die Gefühlsregungen der Beiden zu beobachten und den Geschichten und Erlebnissen von Shifu im Tempel selber zuzuhören. Ein Nebeneffekt des Abttreffens war, dass wir ausnahmsweise die Erlaubnis erhielten, die «Halle des weissen Gewandes» zu betreten. Die berühmten Luohan Wandgemälde sind in Realität noch viel eindrücklicher als es Fotos erahnen lassen.
Nach dem Besuch der Tempelanlagen stiegen Shifu und ich unter brütender Sonne gefühlte tausend Stufen zur Damo Höhle hoch. Kurz innehaltend in der Höhle genossen wir den Augenblick an diesem für den Chan Buddismus und das Shaolin Kung Fu so wichtigen Ort. Danach ging es noch einige hundert Stufen weiter hoch zur Damo Statue. Oben angekommen wurden wir mit einer sehr schönen Aussicht belohnt.
Nach einem aufregenden und interessanten Tag im Shaolin Tempel ging es zurück nach Dengfeng, wo noch das Abschiedsessen von Shifu vor seiner Rückreise anstand. Bei dieser Gelegenheit durfte ich noch Shi Miao Tong kennenlernen. Er ist ebenfalls ein Meisterschüler unseres Shizu Wang Zong Ren und ein Meister des Chan Buddhismus. Es hat mich beeindruckt, wie viel Ruhe und Gelassenheit er ausstrahlt. Im Laufe meines Aufenthaltes begegnete ich ihm noch einige weitere Male, da er bei Shiye Kung Fu trainiert.
Da Shi Nai (Frau von Shiye) eine Akkupunktur-Behandlung benötigte, machten wir uns am Ende der zweiten Woche zu Dritt auf den Weg, eine entsprechende Ärztin aufzusuchen. Zwei Fahrstunden später fuhren wir gefühlt im Niergendwo ein kleines Seitental hoch, wo für mich unverhoft, eines der 72 Nebenklöster des Shaolin Klosters auftauchte: der Shuiyu Tempel. Viel stärker hätte der Kontrast zum Hauptkloster nicht sein können: Die Stimmung war geprägt von einer wohltuenden Ruhe und einigen wenigen beschäftigten Mönchen, wohingegen im Hauptkloster emsiges Treiben mit vielen Touristen herrschte. An diesem beruhigenden und wunderschönen Ort verbrachten wir einen sehr entspannten Nachmittag, während Shi Nai sich der gewünschten Akkupukturbehandlung unterzog.
Highlight Kung Fu Training
Nachdem Shifu am Dienstag nach Hause gereist war, stand am Mittwoch das Unvermeidliche an: Kung Fu Training unter der Leitung von Shiye. Ohne viel Firlefanz ging es los, gefolgt von den gewohnten Korrekturen und Anweisungen. Ich erachtete und erachte es nicht als eine Selbstverständlichkeit, dass Shiye und auch Shifu einen doch schon etwas in die Jahre gekommen Tudi unterrichten. Mit welcher Geduld und Beharrlichkeit sowie Einfühlungsvermögen Shiye mir neue Techniken, Ideen und «Gefühle» zu vermitteln versuchte, war inspirierend und motivierend zugleich. Die Freude von Shiye an Kung Fu ist allgegewärtig und ansteckend. Die Trainings haben mir immer sehr viel Spass gemacht, auch wenn diese immer fordernd und auch anstrengend waren. Achtsamkeit, Aufmerksamkeit und die Bereitschaft zu lernen vorausgesetzt, unterstützt Shiye Tudis in ihrer Entwicklung im Kung Fu von ganzen Herzen – von ihm nie so ausgesprochen, entspricht das meinem Gefühl, wenn ich an die vielen Unterrichtsstunden zurückdenke. Da die «alten» Trainingsplätze nicht mehr existieren, fand das Training vorwiegend direkt vor dem Haus in der Seitengasse statt. Es war zu Beginn etwas ungewohnt in aller Öffentlichkeit zu praktizieren, aber dafür hatte es immer etwas Schatten, was bei sonnigen 31°-35° ein grosser Pluspunkt war.
Highlight Familienleben
Die Teilnahme am Familenleben von Shiye war von Anfang an ein wichtiger Aspekt meines Aufenthalts. Einen kleinen Einblick in ihren Alltag erhalten zu haben, ist für mich eines der wertvollsten Erlebnisse des Aufenthalts. Zu sehen wie Shiye und auch Shi Nai erwartungsfrei geben und helfen, aber auch erwartungsfrei entgegennehmen, war und ist für mich sehr inspirierend. Shiye lebt in jeder Sekunde vor, was er unter Familie versteht – innerhalb der (Kung Fu) Famile ist Helfen und Geben, ohne Gegenleistungen zu erwarten, aber auch Hilfe oder Geschenke annehmen, ohne sofort eine Gegenleistung anzubieten, eine wichtige Tugend. Das bedeutet nicht, sich gegenseitig mit Geschenken etc. zu überhäufen, sondern achtsam und aufmerksam zu handeln und sich gegenseitig materiell oder immateriell zu unterstützen. Während meines dreiwöchigen Aufenthalts in seiner Famile durfte ich dies sehr oft beobachten und auch selber erleben.
Highlight chinesche Kultur
Selbstredend kommt man in China mit der vielfälltigen chinesischen Kultur in Kontakt. Zum Teil ist sie einfach zu verstehen, zum Teil sehr schwierig. Und teilweise ist sie witzig und überraschend – wie beim Sitzen auf dem Rücken einer Steinschildkröte. Dazu einige Erläuterungen von Shifu:
In China symbolisiert das Sitzen auf einer Steinschild-kröte Glück, Langlebigkeit und Weisheit. Schildkröten gelten in der chinesischen Kultur als heilige und bedeutungsvolle Tiere. Sie sind ein Symbol für Ausdauer und Beständigkeit, da sie lange leben und eine starke, schützende Schale haben. Darüber hinaus repräsentiert die Schildkröte auch das Universum, und wird oft mit kosmischen und weltlichen Kräften in Verbindung gebracht.
Steinschildkröten sind insbesondere an heiligen und historischen Stätten zu finden, wie zum Beispiel im Shaolin Tempel und in Gärten, wo sie den Schutz und den Wohlstand symbolisieren sollen. Das Sitzen auf einer Steinschildkröte kann daher als eine symbolische Handlung verstanden werden, die demjenigen, der es tut, diese positiven Eigenschaften und Segnungen verleihen soll.
In der chinesischen Kultur und Tradition haben bestimmte Handlungen symbolische Bedeutungen, und das Streicheln einer Steinschildkröte an bestimmten Körperteilen ist keine Ausnahme. Die Schildkröte selbst steht für Langlebigkeit, Weisheit und Schutz.
Tips und Tricks
Für alle die irgenwann einmal Shiye in China besuchen wollen, folgend einige Anmerkungen. Begegnet man Chinesen mit Freundlichkeit und einem Lächeln, sind sie in der Regel sehr zuvorkommend und hilfsbereit. So haben sich z.B. mehrere chineschische Staatsbürger auf dem Flug von Hong Kong nach Zengzhou nach meinem Befinden erkundigt und mir angeboten, mich durch das Einreiseprozedere zu begleiten. Ein junger Chinese begleitete mich schlussendlich vom Gate bis zum Ausgang und entliess mich nur in «die Freiheit», nachdem er sich überzeugte, dass ich auch wirkllich abgeholt wurde. Das Einreiseprozedere in Zengzhou unterscheidet sich kaum von denjenigen z.B. in die USA. Es empfiehlt sich die Mobilenummer von Shiye zur Hand zu haben (bei meiner Einreise haben sie Shiye angerufen) und alle Dokumente (Einladungsschreiben, Passkopie von Shiye, etc.) in Papierform bereitzuhalten. Bleibt man freundlich und geduldig, klappt die Einreise, wie in meinem Fall, i.A. ohne grössere Schwierigkeiten.
Abschlussworte
Mein Chinaaufenthalt in Shiyes Familie ist zweifelsohne der bisherige Höhepunkte meiner Zeit als Kung Fu Praktizierender, auch einer der Höhepunkte meines Lebens. Die Herzlichkeit, die Hilfsbereitschaft, die Offenheit und das Vertrauen, das einem Shiye und Shi Nai entgegenbringen, ist schwer zu beschreiben – es zu erleben, ist umso schöner. Ich freue mich deshalb, Shiye baldmöglichst wieder zu treffen, und auch durch ihn in die vielen Aspekte des Kung Fu eingeführt zu werden. Genau dafür eignet sich ein Chinaaufenthalt vortrefflich.